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Was ich vom besten Lehrer meiner Schulzeit lernte 

 September 27, 2015

Von  Dr. Stefan Fraedrich

Liebe Schweinehundefreunde,

gingen (gehen) Sie eigentlich gerne in die Schule? Ich selbst bin da ambivalent. Natürlich habe ich damals viel gelernt, einen Großteil davon allerdings längst wieder vergessen. Warum? Ich vermute, weil er unnütz war. Sinnlos belegter Speicherplatz. Kurzzeitig reingepaukt, schnell wieder rausgewürgt. Vor einiger Zeit sah ich auf einer Postkarte in einer Universitätsbuchhandlung folgende Zeilen, die mich nachdenklich gemacht haben: „Je mehr du lernst, desto mehr weißt du. Je mehr du weißt, desto mehr vergisst du. Je mehr du vergisst, desto weniger weißt du. Also: Wozu lernen?“

Gutes Lernen, schlechtes Lernen

Rein biologisch betrachtet, ist diese Aussage natürlich Quatsch: Mit jeder herausfordernden Nutzung unseres Gehirns trainieren wir es, bauen es weiter aus, bilden Wissensnetze innerhalb derer wir neue Informationen besser einordnen können. So werden wir mit der Zeit immer schlauer – und sind teilweise erstaunt, was wir uns eben doch alles merken können. (Kennen Sie das seltsame Gefühl, plötzlich auf scheinbar uralte Informationen zuzugreifen, an die Sie seit Jahrzehnten nicht mal mehr gedacht haben? Zum Beispiel wenn Sie mit alten Freunden oder Kollegen zusammentreffen und über Themen von damals („Weißt du noch?“) sprechen. Oder wenn Sie besonders locker sind und Ihre Assoziationen freier funktionieren. Ich zum Beispiel war vor einiger Zeit sehr erstaunt, als ich mit Alkohol im Blut plötzlich wieder etliche Französisch-Vokabeln wusste und mit meinem französischen Gesprächspartner einfach drauflosplapperte. Nun ja, für meine Verhältnisse zumindest.)

Andererseits ist an der obigen Aussage schon etwas dran: Sehr viel von dem, was wir (vor allem in der Schulzeit) lernen, werden wir im Leben (wenn überhaupt) eher selten brauchen. Wir lernen also einigen Bullshit. Weil er im Lehrplan steht, den eine Behörde bestimmt, in der Menschen arbeiten, die inhaltlich leider immer auf verlorenem Posten stehen: Woher soll eine Behörde heute auch wissen, was wir morgen brauchen? Leidliche Diskussion, ich weiß. Und nein, ich werde jetzt nicht sinnlos drauflosmotzen, denn ich will auf etwas ganz anderes hinaus.

Die wirklich guten Lehrer

Wie geht es Ihnen, wenn Sie an Ihre Schulzeit zurückdenken? Empfinden Sie eine ähnliche Ambivalenz wie ich? Dann erinnern auch Sie sich womöglich auch an eine Handvoll besonders guter Lehrer: Solche die Ihre Kindheit, Jugend und wohl auch einen Teil Ihres Erwachsenenlebens relevant mitgeprägt haben. Besondere Menschen denen wir auch heute noch dankbar sind, weil wir durch Sie etwas wirklich Wichtiges gelernt haben. Was? Jetzt wird es spannend:

  • Die wirklich guten Lehrer haben uns selten durch ihre reinen Lerninhalte (Mathe, Bio, Englisch) beeindruckt – die haben wir irgendwie nebenbei mitgenommen.
  • Nein, die wirklich guten Lehrer haben uns nicht gelehrt, WAS wir denken sollen, sondern WIE!
  • Sie haben uns nicht eingepaukt, WAS wir in bestimmten Situationen tun sollen, sondern AUF WELCHE WEISE!
  • Wir haben bei ihnen keine FAKTEN auswendig gelernt, sondern deren BEDEUTUNGEN!

Und dadurch haben wir Mathe verstanden („Wofür braucht man das konkret?“) oder sprechen heute noch Englisch („Wenn du viel sprichst, übst du viel. Also keine Angst vor Fehlern im Gespräch!“) und wenden Wissen praktisch an. Denn gute Lehrer bringen uns Prinzipien bei, keine starren Regeln. Sie geben uns Orientierung im Gelände, keine vordefinierten Wege. Sie vertrauen auf unsere Intelligenz, statt uns mit Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“ zu belästigen. Sie lassen uns frei denken, ausprobieren, Erfahrungen machen – und hinterlassen dadurch die wirklich tiefen, bleibenden Eindrücke. Natürlich unabhängig vom Lehrplan – wen interessiert schon Papier? Gute Lehrer sind das Wertvollste, was Schülern passieren kann. (Hm, können wir die gleichen Prinzipien heute auf die Rolle von Führungskräften übertregen? Ich meine schon.)

Leo: der beste Lehrer meiner Schulzeit

Der beste Lehrer meiner Schulzeit war aus heutiger Sicht ein ziemlich schräger Typ. Wir nannten ihn Leo („Herr Leonhardt“ klang ziemlich sperrig). Und Leo war so ziemlich der absolute Anti-Typ des braven schwäbischen 08/15-Lehrers, der mein Gymnasium damals mehrheitlich bevölkerte. Dieser „normale“ Typus hatte zwar auch seine Macken, versteckte sie aber unter vermeintlicher Autorität und bemühter Korrektheit, was ihn im Kern unglaubwürdig machte.

Leo hingegen trug seine Macken offen zur Schau: Er motzte, schimpfte, lästerte. Er war oft grob, ungerecht und ungeduldig. Aber: Er war dabei niemals bösartig, berechnend oder gar nachtragend. Und er war auf sehr angenehme Weise unberechenbar, dadurch niemals langweilig, sondern stets äußerst unterhaltsam – und verdammt nah am Leben dran. Er war ein Unikat, das sich oft und regelmäßig mit den Kollegen und dem Rektorat zoffte, jede Regel maximal dehnte, Kette rauchte, soff wie ein Loch – und ständig demonstrierte, nichts und niemanden wirklich ernst zu nehmen (sich selbst eingeschlossen). Heiliges gab es für ihn nicht. Er war ein kratzbürstger, liebenswerter Anarcho-Typ mit Schalk im Nacken. Oft krachend lachend, lautstark pöbelnd, grinsend kommentierend. Seine Fächer: Geschichte, Sport – und die Theater-AG, in der ich die meiste Zeit mit ihm verbrachte.

Haben Sie nun das Bild eines derben, mitunter ungepflegten vollbärtigen Brave-Mädchen-Schrecks im Kopf? Volltreffer: Stimmt genau! Und wundern Sie sich über mich und sind sich nicht sicher, ob Sie Ihrem Nachwuchs solch einen Typen zumuten könnten? Irrtum! Denn Leo war der mit Abstand beste Pädagoge, den ich mir hätte wünschen können: Er hat mir drei (für mich quasi heilige) Prinzipien beigebracht, die mich seit der Schulzeit zutiefst prägen und mir mit Abstand mehr geholfen haben als alles andere, was ich in der Schule je gelernt habe.

Die drei wertvollsten Prinzipien meiner Schulzeit

Wie schon gesagt: Am meisten Kontakt hatte ich zu Leo damals während der Theater-AG, die er leitete. Obgleich ich Leo schon als regulären Lehrer im Unterricht genossen hatte, beeindruckte er mich in der Theater-AG am meisten mit seinem Engagement, seinem Spaß an der Sache – und seiner Querköpfigkeit. Als wir zum Beispiel „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt probten und uns alle über das Wochenende in ein Häuschen am Waldrand einquartierten, fiel plötzlich (und dauerhaft) unsere Hauptdarstellerin aus. Die verrückte Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd, buckelige Irrenärztin und zentrale Rolle des Stücks war unbesetzt.

Leos Reaktion? Erst lautes Schimpfen, dann kreatives Problemlösen: Wer von uns könnte sich wohl in kurzer Zeit die Rolle beinbringen? Schließlich schmunzelnder Optimismus: „Das kriegen wir hin, Leute! Und wenn du, Stefan, dafür die Rolle spielen musst!“

Tja, was soll ich sagen? Ich hatte meine erste Hauptrolle: als verrückte, buckelige Irrenärztin. Es war für mich das reinste Erweckungserlebnis! Und während eines mehrminütigen Monologs bei unserer Uraufführung hatte ich mein allererstes Flow-Erlebnis auf einer Bühne. Mehrere hundert Zuschauer hatten genauso viel Spaß wir wir in der Theater-Truppe – und der Applaus hinterher war herrlich.

Merken Sie, wie viele relevante Erlebnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen in dieser kleinen Geschichte stecken? Vor allem für einen Jugendlichen (ich war damals 17) unschätzbar wertvolle: Probleme kreativ lösen, zuversichtlich improvisieren, die Komfortzone verlassen, sich ganz einbringen, „sein Ding“ finden, Leistung genießen, sich Erfolg erarbeiten.

Am wichtigsten aber erscheint mir folgendes Prinzip: Hinterfrage Regeln, deute sie in deinem Sinne und brich sie, wenn nötig!

Unsere Hautdarstellerin war nicht mehr da – und Leo hat einfach einem Jungen aus der Mannschaft, dem er es zutraute, eine sehr spezielle Frauenrolle übertragen! Hey, das ist echt schräg! (Noch schräger finde ich es übrigens, dass ich später wirklich erst als Pfleger, dann als Student und schließlich als Arzt in der Psychiatrie gearbeitet habe! Wegen Leo?)

Aber Leo hat es nie gekümmert, ob etwas schräg war. Er hat Regeln stets in seinem Sinne gedeutet und mit Leidenschaft gebrochen, wenn sie ihm nicht in den Kram passten. Wir haben Leo geduzt. Wir sind mit ihm Zigaretten rauchend durchs Schulhaus gelaufen, wenn wir abends Proben hatten. Wir haben uns auch privat getroffen und miteinander gefeiert – inklusive Alkohol. Wir haben uns geöffnet, Privates anvertraut, uns Rat geholt, über das Leben ausgetauscht – weit über das übliche Schüler-Lehrer-Verhältnis hinaus. Leo hat sich nicht für die üblichen Regeln der Lehrerrolle interessiert. Er war mehr. Er war ein sehr spezieller erwachsener Freund. Und damit der beste Lehrer, den ich mir damals hätte wünschen können.

Halt! Bevor Sie jetzt denken „Na, dann haben die halt damals einfach gemacht, was sie wollten!“, muss ich gleich heftigst ein Veto einlegen. Denn obwohl wir innerhalb unserer gemeinsamen Theater-AG-Welt gefühlt unendliche Freiheiten hatten, blieb eine Grenze unumstößlich bestehen: Auf der Bühne hat jeder seine Leistung zu bringen! Also: Jeder. Leistung. Immer. Und zwar ohne Ausreden. Denn eine Theatergruppe funktioniert nun mal nur als Ensemble, in dem sich jeder auf den anderen verlassen kann und muss. Wer seinen Text nicht kann, und Stichworte vergisst, schadet nicht nur sich selbst, sondern auch seinem Rollenpartner, der dadurch alleine in der Luft hängt. Und dem Publikum, das eine schlechte Performance zu sehen kriegt. Absolutes No-go!

Merken Sie, wie viele wertvolle Lektionen auch hier wieder drinstecken? Zielgenaues Lernen. Im Team denken. Sich selbst extrem wichtig nehmen, sich aber auch zugunsten der des gesamten Stückes zurücknehmen. Da sein, wenn es drauf ankommt. Sprich: Volle Verantwortung übernehmen.

Und damit wären wir beim zweiten heiligen Über-Prinzip, das ich von Leo gelernt habe: Übernimm Verantwortung für dich selbst!

Sobald du die Bühne (des Lebens?) betrittst, musst du das Beste geben, das du geben kannst. Rumjammern? Gilt nicht! Und du musst dich vorbereitet haben, weil du sonst eine fette Panne riskierst. (Wissen Sie, wie blöd es sich anfühlt, in einer Aufführung den Text zu vergessen?) Du musst dich punktgenau in Stimmung bringen und deine Stimmung halten. Du musst deine Aufregung in den Griff kriegen und in positive Energie umwandeln. Du musst dabei die Wahrnehmungen und Emotionen groß machen, die dir dabei helfen, und diejenigen kleinmachen, die dich dabei stören. Und dafür bist du ganz alleine selbst in der Verantwortung. Nur du kannst deine Knöpfe in dir drücken – das nimmt dir niemand ab.

Faszinierend, oder? Muss ich noch erwähnen, wie hilfreich diese „Schule“ später im „echten Leben“ für mich war? Punktgenaues Lernen für Klausuren und Examina. Mündliche Prüfungen. Verkaufsgespräche mit wichtigen Kunden. Vorträge als Keynote Speaker. Danke, Leo! Danke, Theater-AG! Genauso wie ich dank euch heute immer noch Regeln breche, weiß ich, wann ich gut daran tue, sie ganz genau zu befolgen.

Nun zum dritten Prinzip. Ich habe es bereits angedeutet: Wer auf der Bühne steht, darf das nicht nur „irgendwie“ tun, sondern er muss dabei seine Wirkung im Auge haben. Spreche ich laut genug? Habe ich genügend Präsenz? Wie sieht mich das Publikum dabei? Kommt rüber, was ich sagen will? Wie wirke ich im Verhältnis zu den anderen? Wer auf einer Bühne steht, wirkt in einem komplexen Zusammenspiel allerlei Faktoren – und muss dabei alle im Blick haben und seine Performance aktiv steuern, um erfolgreich zu sein. Ja, wieder ganz wie in unserem Rollen im „echten Leben“: in Familie, Freundeskreis, Kundschaft. Immer müssen wir uns fragen: Bewirken wir tatsächlich, was wir bewirken wollen? Und dann sollten wir willens und in der Lage sein, unsere Performance zu steuern.

Auch hierbei finde ich faszinierend, wie viel ein 17-Jähriger lernen kann: Selbstbewusstes Auftreten. Aktiv auf andere achten. Ständig die Perspektive wechseln. Reagieren und improvisieren. Vom Empfänger her denken. Dennoch emotional bei sich selbst bleiben. Ständig Zwischenergebnisse checken. Die eigene Rhetorik entwickeln. Und, und, und. Alles unfassbar wertvolle Prinzipien für unser „echtes Leben“!

Also lautet dieses dritte „Leo-Prinzip“ für mich: Es ist nicht wichtig, was du bezweckst, sondern nur was du bewirkst!

Erst im Ergebnis zeigt sich, ob du erreicht hast, was du erreichen wolltest. Und falls nicht: Nimm es bewusst wahr und korrigiere dein Verhalten so lange, bis herauskommt, was du wolltest. Je besser du dabei andere Faktoren interpretierst, desto schneller bist du am Ziel: im Krisengespräch, bei der Strategiebesprechung, beim Lernen mit den Kindern. Auf den Bühnen des Lebens eben.

Na? Auf welchen Bühnen des Lebens sollten auch Sie

  • mal wieder Regeln brechen,
  • Verantwortung übernehmen
  • und mehr aufs Ergebnis achten statt nur auf Ihre Absicht?

Was man von schrägen Lehrern so alles lernen kann …

Haben Sie einen schönen Herbstanfang!

Herzliche Schweinehundegrüße

Ihr

Stefan Frädrich

PS: Was ist eigentlich aus Leo geworden? Auch nach meiner Schulzeit hatten wir noch einige Jahre Kontakt. Zuletzt gesehen hatte ich ihn auf einer Party zu meinem 30. Geburtstag. Schon eine Weile her. Dann schlief der Kontakt ein. Vor ein paar Wochen (als ich über meine Schulzeit nach- und mir dieses Thema hier ausdachte) habe ich versucht, ihn mal wieder anzurufen. Die Telefonnummer war veraltet, seine Adresse verwaist, Angehörige waren nicht auszumachen, Nachfragen im Freundes- und Bekanntenkreis liefen ins Leere.

Hm. Auf welcher Bühne er jetzt wohl spielt? Hoffentlich ist es eine ohne Alkoholverbot.

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